Zwischen Wahrheit und Fiktion
Was ich von Emmanuel Carrère über das Schreiben gelernt habe
Es gibt Autor:innen, deren Bücher man liest – und solche, die man mitliest.
Für mich gehört Emmanuel Carrère zur zweiten Kategorie.
Seine Bücher lassen sich kaum einordnen:
Sie sind Recherche und Bekenntnis. Reportage und Roman.
Immer tastend, immer fragend – und nie ganz fertig.
Ob in Der Widersacher, Limonow oder Yoga – Carrère erzählt keine abgeschlossenen Geschichten.
Er dokumentiert ein Ringen mit der Wirklichkeit. Und mit sich selbst.
Warum mich das berührt?
Weil es genau der Raum ist, in dem auch ich arbeite:
Zwischen Fakten und Empfindungen.
Zwischen Recherche und Resonanz.
Ich schreibe literarisch-journalistische Texte. Ich frage, beobachte, höre zu – und versuche zu erzählen, was sich oft nicht erklären lässt.
In der heutigen Medienlandschaft wird viel gefordert:
Klarheit. Haltung. Objektivität.
Doch das Leben funktioniert anders. Es ist widersprüchlich. Unordentlich. Mehrdeutig.
Carrère macht diesen Widerspruch fruchtbar.
Er zeigt: Wir müssen nicht alles verstehen, um es erzählen zu dürfen.
Sein berühmter Satz
„Ich erzähle keine Geschichten. Ich beschreibe Realitäten, die ich nicht begreife“
ist kein Rückzug – sondern ein Angebot.
Ein Raum, in dem Leser:innen mitdenken, mitempfinden und mitzweifeln dürfen.
Was bedeutet das für mein Schreiben?
Es heisst: offen bleiben.
Nicht alles glätten. Nicht jede Lücke schliessen.
Es heisst: Mut zur Zwischenstimme.
Und: dem Unausgesprochenen eine Form geben – nicht als Lösung, sondern als Einladung.
Denn manchmal liegt genau darin die Wahrheit:
Nicht im Fakt. Sondern in dem, was bleibt.
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